Heute gehe ich mit meiner Freundin Hannah Ohrloch stechen. Dazu hab ich mich ein bisschen schlau gemacht und dafür einen sehr versierten und freundlichen Juwelier auf der Döblinger Hauptstraße empfohlen bekommen.

Ich möchte mir ein zweites Loch in mein linkes Ohrläppchen schießen lassen. Hannahs vorhandene Ohrlöcher haben sich durch Nichtbenutzung wieder geschlossen und sie möchte sie wieder durchstoßen lassen.

Wir treffen uns in der Früh bei der Bushaltestelle und kommen rasch beide drauf, dass wir doch ein bisschen nervös sind. Wenn ich an mein erstes Ohrlochschießen denke, wird mir ganz anders. Ich war damals bereits 12 Jahre alt und hatte mich bis dahin geweigert welche machen zu lassen. Meine Erinnerung basiert auf einen doch recht intensiven Schmerz und dem Verlangen nach dem ersten Schuss nach Hause zu gehen. Ich teile das Hannah mit und sie quietscht dankbar auf, ja auch sie hat doch ein bisschen, nun, Bedenken.

Wir sind beide Mütter, haben bereits Kinder auf die Welt gebracht. Ich habe mich mittlerweile auch bereits zwei Mal tätowieren lassen. Also was soll schon sein?!

Trotzdem zappeln wir die Gatterburggasse wie nervöse Teenies in Richtung Döblinger Hauptstraße entlang.

Nicht mehr weit und bald stehen wir vor dem Eingang des Juweliers Hansel. Es ist ein kleiner Raum, drinnen kann man eine blonde Dame mittleren Alters stehen sehen. Wir schauen uns beide die Auslagen an, bestaunen dies und jenes. Bis ich dann mutig ins Geschäft stapfe. Meine Freundin kleinlaut hinterher.

Die Verkäuferin blickt auf und nachdem wir ihr unseren Wunsch und die doch vorhandene Nervosität kundgetan haben, ist das Eis gebrochen. Sie redet sehr lieb und geduldig auf uns ein und zeigt uns die medizinischen Ohrstecker, mit denen sie dann das Loch schießen will. Ich möchte ein silbernes, Hanna entscheidet sich für blaue.

Na? Wer zu erst? Na, gut. Ich sehe, wie Hannah große Augen bekommt und setz mich auf den Hocker, den die blonde, nette Verkäuferin bereits hingestellt hat. Ich sitze mitten im Geschäft. Anders ist es gar nicht möglich, es handelt sich hier um einen kleinen, aber gemütlichen Verkaufsraum.

Die Blonde kommt mit einer kleinen Pistole in der Hand lächelnd auf mich zu. Hmmm. Skeptisch schau ich das Ding an. Sie erklärt mir, dass man dort wo ich gestochen werden will, gar keine Nerven hat. (Nun, ich weiß, dass das nicht so ist, will ihr aber in dem Moment gerne glauben.) Das einzige, was mich erschrecken könnte, ist das Geräusch, das die Pistole macht, wenn der Ohrstecker durch das Ohr geschossen wird. Na, gut. Ok. Also, los!

Sie klemmt mein Ohrläppchen in die Maschine und kurz darauf schnalzt es ganz ordentlich. Weh tut gar nix. Ich schau überrascht. Das war ja wirklich keine große Sache. Sie steckt den hinteren Verschluss auf meinen neuen Ohrstecker und freut sich mit mir. Sie reicht mir einen Spiegel und ich kann mir meine Verschönerung anschauen, ich bin sehr zufrieden. Ein bissl rot bin ich, ist aber überhaupt nicht schlimm.

So, jetzt Hannah. Sie setzt sich schicksalsergeben auf den kleinen Hocker und wartet darauf, dass ihre Ohren ein weiteres Mal defloriert werden.

Da kommt eine weitere Kundin ins Geschäft. Sie erkennt recht schnell die Lage und spricht Hannah aufmunternd zu. Ich biete ihr an, die Hand zu halten. Hannah, nicht der neuen Kundin. Wir sind ja schließlich unter uns. Nein, sie ist tapfer und wartet auf die Pistole.

Die blonde Verkäuferin erklärt ihr allerdings, dass sie bei ihr keine Pistole braucht, da ja bereits Löcher vorhanden sind. Und diese „einfach“ nochmal durchstoßen werden müssen. Sie macht das mit der Hand. Ein gehauchtes „Ok.“ von meiner Freundin und los gehts. Die Blonde nimmt einen blauen Ohrstecker und beginnt damit das Ohrläppchen meiner Freundin zu malträtieren. Ich sehe sämtliches Blut aus Hannahs Gesicht weichen. Ihre Hände halten sich an ihren eigenen Oberschenkeln fest. So, na das war ja net so schlimm? Oder? Ein gehauchtes „Nein.“ von Hannah. Und ich denke in dem Moment, sie will jetzt sicher aufstehen und gehen. Kann ihre Gedanken förmlich lesen.

Danke, Baba, schön wars. Wiedersehen!!!

Doch sie bleibt brav sitzen. Ein bisschen weiß um die Nase und hält mutig ihr anderes Ohr hin. Wieder beginnt die Juwelierin daran herumzubohren. Sie werkt ganz schön und dreht und drückt. Dann ist auch dieses Ohr verschönert und die Verschlüsse werden fixiert. Hannahs Ohren sind ganz rot.

Die blonde Verkäuferin streicht ihr tröstend über den Oberarm und die Kundin und ich bemerken anerkennend Hannahs Mut und ihre blauglitzernde Verschönerung.

Ich zahl für uns beide und wir werden noch in die Apotheke für eine Pflege unserer frischen Löcher geschickt. Forasept heißt die Tinktur und ist tatsächlich ein Ohrlochkosmetikum. Was es doch alles gibt.

Dann machen wir uns auf den Heimweg. Hannah meint, dass sie ihre Ohren ganz schön spürt. Das kann man auch als Außenstehender sehen, sie sind noch immer ganz rot. Das wird sicher bald besser, tröste ich sie, und bin froh, dass ich nur eines und das geschossen bekommen hab.

Ja, den Mutigen gehört die Welt. Und Schönheit muss leiden. Und beides ist doch Ansichtssache. Und meiner Ansicht nach, war das nicht mein letztes Ohrloch. Ich werde berichten.


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