Heute ist es soweit, mein veralteter Körperschmuck wird endlich erneuert.

Marty ist schon da und öffnet mir gleich die Türe zu seinem verheißungsvollen Reich der Farben und Formen.

Diesmal wirkt das Radio nicht so verloren und verzweifelt, leise rauschend gibt es alten und fröhlichen Kommerz des Radiosenders „Arabella“ von sich.

Wo mein Mantel hingehört weiß ich bereits. Mein blaugrauer Stempel wird nochmals skeptisch begutachtet und danach werde ich gebeten mich auf das Bett zu setzen.

Ich sitze seitlich und lege mein linkes Bein leicht verdreht neben mich. Meine nackte Wade wird gut beleuchtet.

Marty erzählt mir von seiner Verwendung der besten und kräftigsten Farben, die man überhaupt weltweit bekommen kann. Außerdem, meint er, sticht er nicht, er graviert. Was das für mich heißt, weiß ich nicht, ich frage diesbezüglich auch nicht nach. Ich nicke nur Kenntnis nehmend.

Danach beobachte ich ihn und sein Werkzeug. Er packt behandschuht eine lange, dünne Nadel mit großer Öse aus einer antiseptischen Verpackung. Dann setzt er diese Nadel in ein handliches Gerät, das mich an eine kleine Spritzpistole erinnert, ein und schließt es an den Strom an. Es surrt. Laut.

Danach richtet er sich ein kleines Schüsserl mit schwarzer Farbe her, desinfiziert mein altes Tattoo und beschmiert es danach mit Vaseline.

„Bereit?“ fragt er. „Natürlich“ sag ich und er legt los.

Was soll schon groß passieren? Ich habe keine Erinnerung an den möglichen Schmerz der Hautbildkunst, es ist bereits viel zu lange her. Außerdem hab ich seitdem ein Kind auf die Welt gebracht und bin Dauergast bei meiner Zahnärztin. Ich kenne Schmerzen, wir sind auf

„Du und Du“.

Marty setzt an und zieht die erste Linie meiner alten Tätowierung mit der Klinge eines Stanleymessers nach.

Meine Augen öffnen sich weit und mein Hirn schreit mich entsetzt an. „Lauf!! LAUF!!!

„WAS???“

Marty setzt ab und der Schmerz verschwindet prompt. Die nächste Linie ist dran und die Spitze der Stanleyklinge öffnet wieder meine oberste Hautschicht und lässt mein Innerstes hysterisch aufschreien.

Ungläubig und mit tränenden Augen schaue ich dem Künstler, der konzentriert über meinem Bein gebeugt meinem blaugrauen Stempel wieder Farbe und somit auch neues Leben einhauchen will zu.

Es ist nur eine Nadel!!

Ich versuche, nach außen hin halbwegs gelassen, meinem Gehirn diese Botschaft zu überbringen. Es glaubt mir nicht.

Immer wieder schau ich hin und versuche auch mich selbst davon zu überzeugen. Langsam wird die Stelle an meiner Wade taub und ich kann wieder normal atmen.

Wenn es zu weh tut, meint Marty, soll ich es sagen, das Bein aber nicht einfach wegziehen. Aber da lässt der neue, unbekannte Schmerz bereits nach, oder ich gewöhne mich langsam daran.

Ich lächle cool. „Nein, nein. Alles ok.“

Nach ein paar weiteren Minuten, in denen mein Hirn endlich meine Botschaft akzeptiert, kann ich mich sogar ein bisschen entspannen und mich über die bereits erfreulichen Unterschiede meines Hautbildes wundern.

Danach ist es ein laut brummendes, kratzendes Ausmalen alter Formen. Immer mehr und mehr füllt sich das alte, farblose Ornament mit neuer, pechschwarzer Farbe. Marty sticht, oder graviert und wischt gleich darauf über sein Kunstwerk um die verbleibende, ungenutzte Farbe zu entfernen. Er graviert und wischt… immer wieder.

Nach einer halben Stunde lacht mir mein erneuertes, jetzt wieder gut sichtbares Tattoo von meiner weißen Wade entgegen. Ich lächle zurück und freu mich.

Marty ist ebenfalls mit seinem Werk zufrieden. Er möchte die inneren, freien Flächen mit weißer Farbe füllen und sind dann dem blauen Edelstein widmen, außerdem würde er gerne Akzente mittels diverser Schatten setzen. Aber nicht mehr heute.

Ich schau und er erklärt, dass, wenn er jetzt mit Weiß weitermachen würde und wie soeben bereits viele Male darüberwischen müsste, sich die schwarze Farbe, die meine Haut gerade ausscheidet, mit ihr vermischen würde. Das wollen wir natürlich nicht und somit heißt es: Abheilen lassen und in einer Woche zur weiteren Gravur wieder auftauchen.

Mein neuer Schmuck wird dick mit Bepanthen eingecremt und mit Frischhaltefolie eingewickelt. Zuhause soll ich die Folie gleich abnehmen, damit die unzähligen Stiche so rasch wie möglich an der Luft heilen können.

Absolut schmerzfrei schlüpfe ich in meinen Mantel, schnapp mir meine Tasche und verabschiede mich freundlich vom Künstler.

Beschwingt mach ich mich auf den Heimweg und freu mich tatsächlich auf die nächste Sitzung. Jetzt weiß ich worauf ich mich da eingelassen habe und muss das nächste Mal weder gegen Flucht- noch Panikattacken kämpfen.

„Von Nix kommt Nix.“ wie man so schön sagt, denke ich mir grinsend und springe ein paar Minuten später in mein Auto.


0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Avatar-Platzhalter

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert